Historischer Richterspruch des Internationalen Gerichtshofs
Das Völkerrecht stellt sich auf die Seite des Klimas.
Man klammert sich ja inzwischen schon fast an jeden Strohhalm. Irgendein Urteil des Internationalen Gerichtshofs (IGH) in Den Haag schaffte es sogar an die erste Stelle in den ARD Nachrichten (in einer Halbzeitpause). Ein Donnerschlag für den Klimaschutz, oder so ähnlich war die Aussage. Tatsächlich handelt es sich nicht um ein Urteil, sondern um ein Gutachten, nichtsdestotrotz hat dieses Gutachten enorme Bedeutung und ist es wert, sich damit ausführlicher zu beschäftigen.
ABER
Damit mir kein Schlaumeier gleich am Anfang vorwerfen kann, ich sei naiv und viel zu euphorisch, schauen wir uns zuerst die nüchterne Realität an. Denn das Gutachten ist beileibe kein magischer Schalter, der die Klimakrise über Nacht löst. Es gibt einige schwerwiegende Widrigkeiten, über die man sich klar sein muss:
Rechtsverbindlichkeit: Das Gutachten schafft zwar einen verbindlichen Rechtsstandard und dient als starke Orientierung, doch Staaten sind nicht unmittelbar gezwungen, ihre Gesetze sofort anzupassen.
Durchsetzungsmacht: Der IGH hat keine eigene Polizei oder Exekutive, die seine Empfehlungen durchsetzen könnte.
Widerstand ist vorprogrammiert: Wir müssen mit erbittertem Widerstand rechnen, insbesondere von Ländern, die stark von fossilen Brennstoffen profitieren.
Theorie und Praxis: Selbst wenn das Völkerrecht klar ist, zeigt die Praxis vor Ort, dass der Weg von der Theorie zur tatsächlichen Gerechtigkeit lang und steinig sein kann.
Vermutlich gibt es noch ganz viele ABERS, die gelernte BedenkenträgerInnen ins Feld führen werden. Es gibt aber auch ein ganz großes TROTZDEM.
TROTZDEM
Ich glaube und hoffe, dass das Gutachten tatsächlich einen neuen und bedeutsamen Hebel für das Klima, für die Natur und für den Planeten darstellt. Was kann es liefern?
Rechtliche Munition für Klimaklagen:
Im Artikel Retten Richter das Klima habe ich schon dargestellt, dass die Zahl der Klimaklagen enorm ansteigt und dass tatsächlich zwar nur wenige von ihnen, aber dennoch immer mehr auch Erfolg haben. Der IGH macht unmissverständlich klar: Klimaschutz ist keine Nice-to-have-Option, keine freiwillige Selbstverpflichtung, sondern eine einklagbare völkerrechtliche Pflicht für alle Staaten. Das 1,5-Grad-Limit ist jetzt Gesetz: Das Gutachten erklärt das 1,5°C-Ziel des Pariser Abkommens zum primären Temperaturziel mit juristischem Gewicht. Staaten sind verpflichtet, ihre nationalen Klimaschutzpläne (NDCs) daran auszurichten und die höchstmögliche Ambition zu verfolgen. Es ist nicht mehr allein ihr Ermessen. Dies gibt Organisationen wie Greenpeace und anderen Klägern in Deutschland und weltweit eine Steilvorlage für ihre juristischen Auseinandersetzungen.Fossile Subventionen und Lizenzen: Ein rechtswidriger Akt? Hier wird es schmerzhaft konkret für viele Regierungen und die fossile Industrie: Die Erschließung neuer Öl- und Gasquellen, die Gewährung von Explorationslizenzen oder Subventionen für fossile Brennstoffe können einen völkerrechtswidrigen Akt darstellen. Das ist eine direkte Warnung an die fossile Brennstoffindustrie und ein mächtiges Argument für Aktivisten, die sich gegen neue fossile Projekte einsetzen.
Haftung und Reparationen: Die Rechnung wird fällig. Das Gutachten öffnet die Tür für Entschädigungen und Wiedergutmachungen für Klimaschäden. Es wird anerkannt, dass historische und aktuelle Emissionen wissenschaftlich den Staaten zugeordnet werden können. Für die besonders verletzlichen Staaten des Globalen Südens ist dies ein Schub für Klimagerechtigkeit und ein Hoffnungsschimmer für die Bewältigung der bereits eingetretenen Verluste und Schäden.
Klimaschutz als Menschenrecht – Das Fundament der Rechte: Der IGH betont, dass das Recht auf eine saubere, gesunde und nachhaltige Umwelt eine Grundvoraussetzung für alle anderen Menschenrechte ist. Das effektive Genießen von Rechten wie dem Recht auf Leben, Gesundheit, angemessenen Lebensstandard oder Privatsphäre ist ohne intaktes Klima nicht möglich. Dieses Urteil ist eine deutliche Bestätigung für alle Klimaklagen, die auf Menschenrechten basieren, und eine Stärkung der ethischen Dimension des Klimakampfes.
NATÜRLICH
Das Gericht bezieht die Natur – Wälder, Ozeane, Ökosysteme – ausdrücklich als entscheidenden Teil in das Klimasystem ein. Staaten sind verpflichtet, die "Absorptionskapazität von Kohlenstoffreservoirs und Senken zu erhalten und zu verbessern". Dies ist ein Plädoyer für Renaturierung und eine Stärkung für alle, die sich für den Schutz natürlicher Kohlenstoffsenken (z.B. Moore) einsetzen.
Treibhausgasemissionen werden als Verschmutzung der Meeresumwelt im Sinne des UN-Seerechtsübereinkommens (UNCLOS) eingestuft. Das Gutachten geht sogar so weit, dass das Verschwinden eines Staates aufgrund von Meeresspiegelanstieg nicht zwangsläufig zum Verlust der Staatlichkeit führen würde – ein kleiner Trost für vom Untergang bedrohte Inselstaaten, der jedoch die Tragödie ihrer Lage kaum lindern kann.
Klimaverträge sind kein Sonderrecht (lex specialis), das andere Völkerrechtsnormen ausschließt. Im Gegenteil: Klimaverträge, Menschenrechte, Seerecht und Völkergewohnheitsrecht ergänzen und informieren sich gegenseitig. Ein Austritt aus dem Pariser Abkommen entbindet Staaten also nicht von ihren grundlegenden Klimaschutzpflichten unter “Völkergewohnheitsrecht”.
PRAKTISCH
Das Gutachten setzt einen verbindlichen Rechtsstandard, der als Orientierungs- oder Warnungsfunktion dient und von nationalen Gerichten herangezogen werden wird. Für laufende Klimaklagen ist dies eine Steilvorlage. Der Donnerschlag aus Den Haag wird den politischen und öffentlichen Druck erhöhen, ambitioniertere Klimaziele zu setzen und den Ausstieg aus fossilen Brennstoffen voranzutreiben. Natürlich ist dabei mit erbitterten Kämpfen, Widrigkeiten und auch Niederlagen zu rechnen (s.o.) Das Gutachten schränkt politische Freiräume ein und macht es schwieriger, sich der Verantwortung zu entziehen.
Allerspätestens bei der Frage “wer zahlt?” wird es auch hier wieder erst so richtig spannend. Das Gutachten präzisiert nämlich, dass der Status eines "entwickelten" oder "sich entwickelnden" Staates nicht statisch ist, sondern von den aktuellen Umständen abhängt. Dies sollte schließlich zu einer gerechteren und dynamischeren Lastenverteilung im Kampf gegen die Klimakrise führen. Es ist ein Aufruf zu mehr globaler Solidarität und Zusammenarbeit.
RICHTIG
Juristische Meilensteine sind meistens nur Zwischenschritte, Anfänge oder auch Eckpunkte. Die wirkliche Transformation passiert durch politische und gesellschaftliche Willensbildung und entsprechende Entscheidungen. Immerhin gibt es jetzt ein wichtiges Werkzeug mehr, mit dem an einer lebenswerten Umwelt gearbeitet werden kann.
Die Bedeutung einer funktionierenden Rechtsstaatlichkeit fällt einem dabei schaudernd vor die Füße. Zum Beispiel, wenn ein US-Präsident meint, er sei doch von der Mehrheit gewählt (im Gegensatz zu irgendeinem Richter), oder ein deutscher Innenminister den Richterspruch zur Zurückweisung an den Grenzen sehr selbstständig interpretiert, dann wackelt dieser Rechtsstaat nämlich. Und dann ist auch so ein Gutachten des höchsten Gerichts auf der Welt nicht mal das Papier wert, auf dem es geschrieben steht. Und das Gutachten ist wahrlich mehr als nur ein Stück Papier. Es ist ein moralischer Kompass und ein dringender Aufruf an die Menschheit. Der IGH hat seine Rolle erfüllt, indem er das geltende Recht mit unzweifelhafter Klarheit formuliert hat. Die eigentliche Verantwortung liegt nun bei uns allen: bei den Regierungen, die ihre Pflicht erfüllen müssen; bei den Unternehmen, die ihre Praktiken ändern müssen; und bei uns Bürgerinnen und Bürgern, die diesen Wandel einfordern und unterstützen müssen.
BEDEUTEND
Wer ist der IGH und welche Rolle spielt er?
Der Internationale Gerichtshof (IGH) ist das höchste juristische Organ der Vereinten Nationen und hat seinen Sitz in Den Haag. Seine Hauptaufgaben sind, Rechtsstreitigkeiten zwischen Staaten zu schlichten und Rechtsgutachten zu völkerrechtlichen Fragen abzugeben. Seine Urteile sind für die Streitparteien bindend. Die Gutachten, wie das zum Klimawandel, sind zwar nicht unmittelbar bindend, haben aber als offizielle Interpretation des Völkerrechts ein enormes juristisches Gewicht und werden von nationalen Gerichten oft als maßgeblich herangezogen. USA und Russland haben ihre Anerkennung des IGH übrigens zurückgezogen, China hat sie nie ausgesprochen.
Wie kam es zu dem Gutachten?
Das Gutachten wurde nicht von einem Staat allein in Auftrag gegeben, sondern durch einen Beschluss der UN-Generalversammlung angefordert. Der Anstoß dazu kam von der kleinen Inselrepublik Vanuatu, die am stärksten von den Folgen des Klimawandels betroffen ist. Die Initiative wurde maßgeblich von einer globalen Jugendbewegung und zivilgesellschaftlichen Organisationen unterstützt. Das Ziel war, eine klare rechtliche Grundlage dafür zu schaffen, dass Staaten für den Klimaschutz verantwortlich sind, um so eine neue Welle von Klimaklagen weltweit zu ermöglichen und den Druck auf die Politik zu erhöhen.
KLUG
Die Kernaussagen zum Mitnehmen
Der IGH ist das höchste Gericht der UNO. Er schlichtet Streitigkeiten zwischen Staaten und gibt rechtliche Gutachten ab.
Das Klimagutachten ist eine beratende Stellungnahme. Es ist nicht direkt bindend, hat aber enormes rechtliches Gewicht und dient als juristische "Steilvorlage" für Klimaklagen weltweit.
Der Anstoß kam von der UN-Generalversammlung auf Initiative von Inselstaaten wie Vanuatu. Das Gutachten ist also ein Ergebnis globaler Solidarität und der Bemühungen der am stärksten vom Klimawandel Betroffenen.
Die Kernbotschaft des Gutachtens: Klimaschutz ist keine freiwillige Option, sondern eine völkerrechtliche Pflicht. Staaten müssen ihre Emissionen reduzieren, um das 1,5°C-Ziel zu erreichen.
Starke Argumente für die Klimabewegung:
Fossile Subventionen könnten als "völkerrechtswidrig" gelten.
Staaten könnten für Klimaschäden haftbar gemacht werden.
Das Recht auf eine gesunde Umwelt wird als Menschenrecht anerkannt.
Wichtigste Herausforderung: Trotz des Gutachtens fehlt die direkte Durchsetzungsmacht. Die Wirksamkeit hängt vom politischen Willen und dem Kampf um die Rechtsstaatlichkeit ab.
Für alle, die damit gleich loslegen und sich im ersten Schritt noch etwas einlesen wollen, liste ich hier noch ein paar weiterführende Links auf:
Das Gutachten in seiner vollen Länge (ca. 140 Seiten)
Beitrag in der Tagesschau zum Gutachten
Einschätzung aus LTO (Legal Tribune Online) zum Gutachten
Beim SWR ist unter der Rubrik “Junger Dokumentarfilm” eine tolle Produktion zu finden, die den Kampf engagierter junger Leute für ihre Heimatregion im Südpazifik beschreibt. Sehr sehenswert!